Rumex alpinus, auch Alpen Ampfer, nennt sich eine Pflanze, die von den Bauern aufgrund ihres Störfaktors bei der Heuernte als Unkraut bezeichnet wird. Sie gedeiht vor allem in der Gegend rund um Almhütten, wo der Boden durch Weidevieh eine besonders hohe Stickstoffbelastung aufweist. Auch wenn diese bereits von Mensch und Vieh verlassen wurden, so liefert die Pflanze durch ihr heute reiches Vorkommen einen Hinweis auf den ehemaligen Verwendungszweck als bäuerliche Produktionszentren. Produktionszentren, die aufgrund der zentralisierten Herstellung von Milch und Käse heute längst obsolet geworden sind.
Die „Zeit“ – so der Titel der Arbeit der kürzlich verstorbene österreichischen Künstlerin Ingeborg Strobl – lässt eben auch Unkraut gedeihen. Unkraut, an dessen Vorhandensein sich sowohl die Jahre lange Existenz der Rinder als auch die sich verändernden Lebensbedingungen der Bauern ablesen lassen.
Das Werk, das als eine künstlerische Auseinandersetzung zum Thema „Naturprozesse und Geschichtsdynamik“ verstanden werden kann, ist eines von zahlreichen Arbeiten, die noch bis Mitte Jänner in der Ausstellung „Naturgeschichten“ ihrer Vermittlung an die Besucher harren. Die Werke und Werkgruppen erzählen von Kolonialisierung (gelungen beispielsweise die einfach wirkende und doch einprägsame Fotoserie von Jonathas de Andrade, die eine Gruppe von Plantagenarbeitern zeigt, die ein Alphabet formen) über Flucht (humorvoll und nachdenklich stimmend: die Arbeit von Sven Johne rund um die erfundene Geschichte eines vermeintlichen DDR-Flüchtlings) bis hin zu den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten. Letzteres ein Thema, das unter anderem in den Fotografien von Baracken der ehemaligen Vernichtungslager und halb verrosteten Objekten von Heimrad Bäcker seine traurige Vermittlung findet.
Spuren des Völkermordes
Beinahe schon absurd – trotz ihres ernsten Inhaltes – mutet hingegen die Installation von Christian Kosmas Mayer an. „Life Story of Cornelius Johnson’s Olympic Oak and Other Matters of Survival“ begibt sich auf eine Spurensuche zu jener Eiche, die einst dem farbigen Stabhochspringer Cornelius Cooper Johnson für seinen ersten Platz bei den Olympischen Spielen 1936 – nicht von Adolf Hitler – überreicht wurde. Der deutsche Führer hatte zuvor das Stadion verlassen um den Sportler nicht in seiner Loge empfangen zu müssen. Johnson, der wie die anderen afro-amerikanischen Olympiateilnehmer nach seiner Rückkehr in die Staaten auch nicht im Weißen Haus empfangen wurde, pflanzte den Baum in seinen Garten, wo er heute von einer mexikanischen Einwandererfamilie nicht um seine Geschichte wissend liebevoll umsorgt wird. Für die Ausstellung wurde eine Gruppe von in einer Nährlösung schwimmenden Pflänzchen vom Künstler ins Land geschmuggelt. Es bleibt abzuwarten, ob die Geschichte rund um eine deutsche Eiche, deren Ableger keine Einfuhrgenehmigung erhielten, eine Fortsetzung findet.
Ästhetisch wirken hingegen die Aufnahmen von Tatiana Lecomte und Mirosław Bałka. Letzteres ein Film, der die Ausstellungs-Besucher in die heutige Landschaft des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau führt. Dort wo einst Menschen ermordet wurden grasen heute Rehe – nicht zuletzt ein Verweis darauf, dass zur gleichen Zeit während in Wannsee die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung beschlossen wird, der Disney Film „Bambi“ gerade seine Premiere feiert.
Dass Widerstand, Flucht und Völkermord Themen ohne Ablaufdatum sind, lässt sich auch an den Verbrechen während des Jugoslawienkrieges ablesen. Sandra Vitaljićs zeigt Fotografien von verborgenen Orten in der Natur, die einst Schauplatz von Massakern waren. Interessant ist auch Sanja Ivekovićs Film-Pflanzen-Installation „Resnik“, in der die Künstlerin Parallelen zwischen Entwurzelung durch Flucht und ungünstigen Lebensräumen von Pflanzen zieht. Die in der Ausstellung in einem dunklen Raum ohne Wasser aufgestellten Sträucher werden bis zum Ende der Ausstellung unter den Augen der Besucher vertrocknet sein.
Historische Positionen
Neben derlei neuen Arbeiten lassen sich aber auch historische Positionen der so genannten Neon-Avantgarde in der Schau ausfindig machen. Die Palette reicht von der Joseph Beuys Dokumentation seiner amerikanischen Performance – ein wunderbares Zeugnis der Kunstgeschichte, in dem der Künstler mit jenem Kojoten zu sehen ist, mit dem er sich (als Zeichen der Annäherung an die indianische Bevölkerung) eine Woche lang einen Raum teilte – über die zivilisationskritischen Werke der jugoslawischen Gruppe OHO bis hin zum Überblick über das Schaffen der rumänischen Künstlergruppe Sigma, denen die Natur in Zeiten Ceauşescus zur Plattform nicht-konformistischen Kunst wurde.
Alles in allem eine äußerst gelungene Ausstellung, die zwar viel Lesearbeit voraussetzt – längere erklärende Texte und Zetteln zur Entnahme befinden sich neben den einzelnen Werken – dafür aber jede Menge interessanter, wenn auch zumeist trauriger Geschichten zu bieten hat. Wer nach dem Besuch im Mumok noch einen nicht minder tragischen Nachschlag möchte, kann auch dem Naturhistorischen Museum einen Besuch abstatten. Das Museum, auf der anderen Straßenseite gelegen, zeigt als Außenstelle der Schau eine Gruppe von geteerten Tieren, die einmal mehr auf den fahrlässigen Umgang der Menschheit mit seiner Umwelt verweisen.
Naturgeschichten. Spuren des Politischen
Noch bis 14. Jänner 2018
mumok (Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien)
Museumsquartier
Museumsplatz 1
1070 Wien
Öffnungszeiten: Mo 14.00 bis 19.00 Uhr, Di bis So 10.00 bis 19.00 Uhr, Do 10.00 bis 21.00 Uhr
Eintritt: 11 Euro/ermäßigt 7,50 bis 8,50 Euro
www.mumok.at
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